Schutzrufung


von Frater Zeno

Unter diesem Namen soll hier eine Vielzahl von Praktiken zusammengefaßt werden, die nicht wie Erdung und Zentrierung unerwünschte magischen Wirkungen entfernen, sondern als „Gegenzauber“ diese zu neutralisieren versuchen. Das heißt also, eine Schutzwirkung herbeizuzaubern. Das Herbeirufen magischen Schutzes ist wohl der spektakulärste und unmittelbar faszinierendste Teil des Bannens. Das Errichten astraler Barrieren, das Rufen nach geistigen Wächtern oder Räuchern macht einfach mehr her als die eher nüchternen, schlichten Übungen zur Erdung und Zentrierung. Dieser Teil des Bannens ist allerdings auch der am wenigsten wichtige: wer gründlich geerdet und zentriert ist, wird in den seltensten Fällen eine zusätzliche Schutzrufung sinnvoll verwenden können.

Notwendigkeit der Schutzrufung

Normalerweise bieten sich Schutzrufungen vor allem dann an, wenn es ein konkretes, außerhalb des Bannenden liegendes magisches Problem gibt oder zu geben scheint, das nicht unmittelbar durch Erdung beseitigt werden kann und eine Art Gegengewicht erfordert. Der klassische Anlaß sind Spukerscheinungen und Befürchtungen, man könnte magisch angegriffen werden. Aber auch bei Panikattacken und Alpträumen können Rituale, die wie das Kleine Pentagrammritual beispielsweise die Erzengel zum Schutz herbeirufen, Linderung verschaffen – es soll sogar Psychologen geben, die den Nutzen solcher Rituale für diese Zwecke anerkennen. Viele Traditionen der Magie verwenden die in ihren Bannritualen zu Schutz und Führung herbeigerufenen Wesen und Ideen auch als Ausgangspunkte für die Entwicklung des jeweiligen magischen Weltbildes, die durch die Ritualpraxis instituiert werden, ohne daß ihre Funktion im konkreten Fall unbedingt notwendig wäre. Es gibt Magietreibende, die völlig ohne besonderen magischen Schutz auskommen oder ihn sogar explizit ablehnen, weil sie ihn beispielsweise als ein Zeichen von Unselbständigkeit oder als aufgrund seiner latenten Aggressivität eher kontraproduktiv ansehen. Diese bilden jedoch gerade unter Zeremonialmagiern eine eher kleine Minderheit.

Methoden der Schutzrufung

Aus der Vielgestaltigkeit der Schutzrufung folgt, daß kaum eine konkrete Anleitung zum Rufen von Schutz gegeben werden kann. Nahezu jede Form der Magie kann dazu verwendet werden, die eigene Person zu schützen. Es folgen daher einige Beispiele, die nach Belieben verwendet oder von denen ausgehend weitere Techniken entwickelt werden können. Eine populäre Möglichkeit ist die Evokation eines schützenden Geistwesens. Prinzipiell ist hier nichts weiter zu beachten als bei Evokationen üblich, abgesehen davon, daß der schützende Geist selbstverständlich einer sein sollte, dem die geschützte Person vertrauen kann. Deshalb werden normalerweise prinzipiell gutartige (wie verschiedene Engel), mit der geschützten Person verbündete (zum Beispiel das Krafttier), durch einen Pakt zum Gehorsam gezwungene (häufig bestimmte goetische Dämonen) oder im Rahmen gewisser Regeln verläßliche (etwa der „Wächter“ des Simon Necronomicon) Geister gerufen. Besonders beliebt sind auch spezialisierte Psychogone. Die Funktion dieser Geister ist fast immer der unmittelbare Konflikt oder die Abschreckung möglicher Angreifer. Die klassische rituelle Evokation mit Schutzkreis, Dreieck usw. ist für einen permanenten Schutz natürlich ungeeignet und kann allenfalls den Anfang der Schutzverzauberung bilden. In manchen Fällen werden evozierte Schutzwesen in materielle Basen wie Amulette oder Statuetten verankert. In vielen Fällen geschieht eine Schutzgeistevokation jedoch nur kurzzeitig, um eine wie auch immer geartete Gefahr zu neutralisieren. Ein typisches Beispiel ist die Evokation des Erzengels Michael während des katholischen Rituals des Exorzismus‘. Häufig wird auch einer Gottheit oder einem ähnlich bedeutsamen und machtvollen Geistwesen wie dem eigenen Totem, einem Gruppenegregore oder dem Heiligen Schutzengel die Aufgabe des magischen Schutzes überlassen. Diese Methode ist besonders bequem und gilt als zuverlässig, ihre Effektivität scheint jedoch direkt von der Bindung an die jeweilige Instanz abzuhängen. Die zum Schutz gerufenen magischen Konzepte brauchen keineswegs die Form schützender Geister zu haben. Zwar ist diese Form – wohl aufgrund der Dominanz des Kleinen Pentagrammrituals – die in der rituellen Magie übliche, prinzipiell ist ihr jedoch jede Form der Magie gleichgestellt, die den Bannenden in einen magisch geschützten Zustand versetzen soll. Das reicht von der Distanzierung aus der Welt in der OMNIL-Formel bis zu „Bodybuilding“ für den eigenen Energiekörper. Besonders typisch sind Schilde, die in den meisten Fällen den Körper einhüllen (so der klassische Odmantel) oder ihn in einer Kugelform umschließen. Damit verwandt sind Schutz bietende magische „Atmosphären“, also generell harmonisierende oder stabilisierende Wirkungen, die ständig wirken und normalerweise vom Körper der geschützten Person ausgehen. Weniger verbreitet sind astrale Waffen – meist ganz klassisch der Stab oder das Schwert, in Einzelfällen aber auch Feuerwaffen oder völlig andere Formen. Viele Schutzamulette könnten in diesen Bereich eingeordnet werden, allein weil ihnen die Eigenschaft, in irgendeiner Form Schutz oder Harmonie zu emanieren, zugeschrieben wird. Sogar Traumfänger sind Beispiele für solche magischen Schutzfunktionen. Unintelligente Schutzfunktionen gelten bei vielen Praktizierenden als weniger effektiv, aber auch als leichter zu handhaben, als schützende Geister. Sie werden deshalb häufiger für den ständigen Gebrauch empfohlen als evozierte Schutzgeister – auf die jedoch in Krisensituationen zurückgegriffen wird. Auch eine Invokation kann Schutzfunktion haben. Schutzinvokationen werden etwas anders eingesetzt als Evokationen von Schutzgeistern. Sie sind praktisch immer nur kurzzeitig. Gelegentlich gelten sie nicht der Konfrontation oder Abschreckung, sondern der Tarnung oder der Unterwerfung einer Bedrohung. Wie bei anderen Invokationen auch werden negative Wesen wie Dämonen hier seltener verwendet als im Falle der Evokation. Außerdem werden anders als bei der Evokation weniger Wesen verwendet, die als von geringerem Rang betrachtet werden (wie Elementare oder Psychogone), sondern häufiger Gottheiten oder ihnen verwandte Wesen. Bei aller Vielgestaltigkeit gibt jedoch einige Grundregeln für die Verwendung der Schutzrufung, die in jedem Fall zu beachten sind.

Verwendung der Schutzrufung

Schutzrufung ohne vorangehende Zentrierung ist kontraproduktiv. Ein Schutzzauber mag noch so gut gemeint sein, er wird eine vorhandene Destabilisierung in jedem Fall verstärken und auch wenn er eine momentane echte oder scheinbare Bedrohung neutralisiert, wird die eigene Verwundbarkeit dadurch größer und der nächste Konflikt ist damit vorprogrammiert. Gerade in Krisenzeiten, wenn das Rufen nach magischer Hilfe naheliegt, ist die eigene Zentrierung oft mangelhaft und ein hastiger Ruf an eine weitere Instanz, in das Geschehen einzugreifen, steigert die Verwirrung und Hilflosigkeit eher, als daß er sie lindert. Ist eine gründliche Zentrierung durchgeführt, so wird ein anschließender Schutzzauber nicht nur möglicherweise unnötig, er wird auch durchdachter und häufig effektiver eingesetzt werden können. Eine Schutzrufung kann auch kontraproduktiv sein, wenn nichts da ist, wovor ein Schutz notwendig wäre. Immerhin impliziert das Rufen nach Schutz eine Bedrohungssituation und kann damit nach magischer Logik genau diese hervorrufen. Es ist auffällig, daß alle magischen Traditionen, die ein regelmäßiges Rufen nach Schutz zum Element haben, eine unmittelbare magische Gefahr für das Individuum sehen, etwa feindselige Zauberer, das Absinken der Seele in die Welt der Qliphoth, astrale Feinde oder ähnliches. Was hier Ursache und was Wirkung ist, darf hinterfragt werden. Außerdem muß ein solcher Zauber richtig formuliert sein. Das gilt natürlich für die meisten Zauber, aber gerade im Bereich der Schutzzauber wird sehr oft der Fehler gemacht, mit dem Zauber darauf abzuzielen, „sich“ zu schützen, ohne zu durchdenken, was dieses „ich“ umfaßt und was nicht. Ein gängiges Manöver in magischen Konflikten (so selten sie sind) ist es, diejenigen Bereiche des Opfers zu behexen, die es zu schützen vergessen hat: beispielsweise seine Freundschaften, seine Finanzen oder auch Körperteile, die das Opfer an sich nicht mag. Sollte man sich jemals in einem magischen Konflikt sehen – was, wie nicht genug betont werden kannn, eine sehr seltene Situation ist – so täte man gut daran, die einzelnen Bereiche des eigenen Lebens zu betrachten und planvoll zu schützen, anstatt vorschnell einen Schutz zu installieren, der sich möglicherweise ausschließlich auf die eigene physische Gesundheit bezieht. Wie schon im Abschnitt Erdung erwähnt, können Schutzzauber bei bestimmten Formen der magischen Erdung mit geerdet und gebannt werden. Dem kann durch die Verwendung materieller Basen begegnet werden.

Schutzanrufung für die Umwelt

Die Schutzrufung ist derjenige Bestandteil der Bannung, der am leichtesten stellvertretend für andere ausgeführt werden kann. Gerade deshalb sollte er, sofern möglich, von einer gründlichen Zentrierung und Erdung der Zielperson begleitet und der Schutzzauber sorgfältig formuliert werden. Die schlechteste mögliche Maßnahme ist es, beispielsweise einen Marsgeist mit dem unspezifischen Auftrag zu schicken, der Zielperson in der ihm richtig erscheinender Weise zu „helfen“ – das ist ein durchaus dehnbarer Begriff und das Ergebnis könnte leicht als magischer Angriff gewertet werden. Ein sorgfältig durchgesprochenes und nach Möglichkeit gemeinsam durchgeführtes Bannritual, bei dem dem Klienten eine oder mehrere Schutzinstanzen oder -mechanismen auf den Weg gegeben werden, kann hingegen gerade Personen mit psychischen Problemen sehr helfen und ist möglicherweise die sinnvollste Art von „Auftragsmagie“ überhaupt. Nichtrituelle Mittel, magischen Schutz zu rufen – wie Gebete und die Verwendung von Amuletten – wirken in einem rituellen Kontext in ebenso ritualisierter Form am besten. So könnten Gebete auf einen Altar gerichtet und laut gesprochen werden, Amulette könnten berührt werden, um ihre Wirkung zu beschwören und so weiter. Die sehr allgemeine Definition der Schutzrufung zeigt schon, wie unzureichend die Einteilung magischer Bannungspraktiken in genau drei Bereiche ist. Spätestens bei dem Versuch, ein magisches Herbeirufen von Harmonie in entweder den Bereich der Schutzrufung oder den der Zentrierung einzuordnen, zeigt sich die Künstlichkeit dieser Kategorien. Sie werden auch, um das noch einmal zu betonen, nur verwendet, um das bei näherer Betrachtung doch komplexe Thema der Bannung etwas vereinfachend darstellen zu können. Daß es in der Praxis Okkultisten geben mag, die beispielsweise die OMNIL-Formel als zentrierend statt als schutzrufend ansehen, spielt an dieser Stelle keine Rolle.

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