von Frater Rätselhafter Pinguin
Chaosmagie ist ein relativ junges Gewächs: In den siebzieger und frühen 80er Jahren wurde der Begriff „Chaosmagie“ von einigen auf der britischen Insel beheimateten Magiern kreiert und mit Inhalt versehen. In erster Linie sind hier Pete Carroll, Ray Sherwin und Ramsey Dukes zu nennen. Caroll war es dann auch, der mit dem IOT die erste und bis heute wichtigste chaosmagische Vereinigung gündete. Mitte der 80er Jahre war es Fra. V.D. der der Chaosmagie in Deutschland zu einer gewissen Popularität verhalf. Weiterführende Literaturempfehlungen zum Thema, finden sich u.a. auf der Homepage der deutschen Sektion des IOT. Natürlich ist auch hier nicht alles neu: neben offensichtlichen Bezugnahmen auf die diskordische Bewegung (Robert Anton Wilsons „Illuminatus“, die geheimnisumwitterte „Principia Diskordia“ usw), findet sich auch existentialistisches, taoistisches, frühbuddhistisches, antik-gnostisches und quantenphysikalisches Gedankengut wieder. Auch William S. Burrough und vor allem der britische Magier Austin Osman Spare und sein ZOS KIA Kult können als Vorläufer bzw. Geisteverwandte der Chaosmagie gelten. Diese Einflüsse beziehen sich jedoch nur auf die theoretischen Grundlagen der Chaosmagie – die magische Praxis lässt sich daraus nur sehr bedingt ableiten. So lässt sich eher von einer chaosmagischen Haltung sprechen, als von einem „typisch“ chaosmagischen Ritual. Abgesehen vielleicht von einigen Ritualen, die so gewagt oder abstrus sind, das sie eigentlich nur einer chaosmagischen Haltung entspringen können. Oft ist jedoch ein Chaosmagisches Ritual von aussen betrachtet, nicht von einem Ritual irgendeiner anderen magischen oder okkulten Tradition zu unterscheiden, da der Unterschied nur in der inneren Haltung des Magiers/der Magierin liegt. Auf das „Chaos“ selbst wird nur in relativ wenigen chaosmagischen Ritualen direkt bezug genommen – die chaosmagische Theorie ist eher die Matrix, die dem magischen Handeln zugrunde liegt. Ungeachtet der pragmatisch-praktischen Ausrichtung der Chaosmagie, sollen den ihr zugrundeliegenden theoretischen Annahmen doch ein paar Sätze gewidmet werden: Es gibt eigentlich nur zwei grundlegende Begriffe, aus deren Verhältnis zueinander sich alles andere ableitet: Den Allerweltsbegriff „Chaos“ und den Platzhalterbegriff „KIA“, der für etwas steht, was sich– wie das meistens so ist – nicht wirklich erklären lässt. Chaos: „Das manifeste Universum ist nur eine winzige Insel relativer Ordnung innerhalb eines unendlichen Ozeans ursprüglichen Chaos‘ oder Möglichkeiten.Darüber hinaus durchdringt das Chaos jeden Zwischenraum, jede Lücke in unserer Insel der Ordnung. Diese Insel der Ordnung wurde willkürlich vom Chaos ausgespien und wird schließlich einmal wieder in ihm aufgelöst werden…… … im tiefsten Kern unseres Wesens gibt es einen Funken ebenjenes Chaos, das die Illusion dieses Universums hervorgebracht hat. Dieser Chaos Funken ist es, der uns lebendig macht und es uns erlaubt, Magie auszuüben. Wir können das Chaos nicht unmittelbar wahrnehmen, weil es simultan jedes exakte Gegenteil all dessen beinhaltet, für das wir es halten mögen. …..Wenn wir uns dadurch besser fühlen, können wir dieses Chaos auch Tao oder Gott nennen und uns einbilden, es sei gütig und besitze menschliche Gefühle… (Pete Carroll, Psychonautik) Kia: der Begiff wurde von Spare übernommen „Kia kann nicht unmittelbar erfahren werden, weil es die Grundlage des Bewußtseins oder der Erfahrung ist, und es besitzt auch keine festen Eigenschaften, an denen sich der Verstand festhalten könnte. Kia ist das Bewußtsein…… das Selbst-Bewußtheit verleiht, aber selbst nicht aus irgendetwas zu bestehen scheint.“ (Pete Caroll, Psychonatik) Kia ist nicht das Selbst, die Seele oder sonst irgendetwas persönliches. Es ist der Schnittpunkt von Chaos und Wahrnehmung – nicht die Wahrnehmung selbst, sondern deren Voraussetzung – einer Art leerer Spiegel, in dem sich Chaos wahrnehmen kann. Tja, das wär’s dann eigentlich – darüber hinaus gibt es nichts, was von Bestand und Bedeutung wäre. Alles andere, was wir so empfinden mögen und an oder in uns wahrnehmen mögen – Selbst, Seele, höheres Selbst usw. – sind nur Mißverständnisse, die sich kurzzeitig verfestigt haben. Alles ist nur Spiel von Kia und Chaos und es gibt kein warum, kein woher und kein wohin und niemand sagteinem was das Ganze eigentlich soll. Dieses Kia ist aber nun irgendwie in diesen ganzen Mißverständnissen etwas eingklemmt, so dass es nicht frei agieren kann. Wäre Kia in uns frei, wäre jeder Gedanke, jede Empfindung, jede Wahrnehmung reine Magie – und Wollen und Wahrnehmung (sprich Welt) wären eins. Vielleicht ist das ja eine erhebende Erfahrung. Soweit die Theorie, aus der sich dann mehr oder weniger nachvollziehbar, die Praxis der Chaosmagie entwickelt. Chaosmagie beschreibt nur einen Zugang zur Magie – eine Haltung. Chaosmagie kann auf vielerei Arten ausgeübt werden – auf traditionelle wie auf experimentelle Art und Weise. Zwei der wesentlichsten Grundsätze lauten: 1. Es gibt möglicherweise keine absolute Wahrheit 2. Nichts ist wahr, alles ist erlaubt Der erste Satz ist nicht eigentlich ein Dogma, das sei das „möglicherweise“ vor – er stellt jedoch klar, dass die Relativität jeder Erfahrung anerkannt wird. Der zweite Satz ist erinnert ein wenig an den Kreter, der kostantiert „alle Kreter lügen“. Nun, über diese Sätze ließe sich lange und spitzfindig philosophieren – der Punkt ist aber, dass sie dem Chaosmagier die größtmögliche Freiheit bei der Entwicklung seiner magischen Praxis gewähren. Ob wirklich nichts wahr ist, weiß natürlich niemand so ganz sicher, man kann sich dafür entscheiden, von dieser Annahme auszugehen oder auch nicht – wenn nicht, so kann man zwar durchaus Nutzen und Erkenntnis aus dem einen oder anderen chaosmagischen Ritual ziehen, aber man wird seine Bestimmung nicht in der Chaosmagie finden. Macht ja nichts. Und ist wirklich alles erlaubt ? Ersrmal ist dieser Satz kein Gesetz, sondern einfach nur um ein Statement des guten alten Austin Osman Spare (und/oder Hassan y Sabah ?), dem die meisten Chaosmagier/Innen zustimmen, obwohl dies nicht gleichermaßen zwingend ist, wie die Zustimmung zu Satz Nummer eins. Letzten Endes ist dies aber nicht von ethischer oder gar moralischer Relevanz . Was soll das ganze herumgeeiere? Seit vielen Jahren wird von furchtbaren Exzessen, Kindesmißbrauch usw. innerhalb der thelemitischen oder satanistischen Szene gemunkelt, von bedrohlichen Verschwörungen usw. Nichts davon konnte wirklich nachgewiesen werden, und am Ende waren es die Katholiken, die sich des massenhaften Kindesmißbrauchs schuldig gemacht haben. Und am Rande auch noch ein progressives Reforminternat – mit Okkultismus oder Satanismuis hatten all diese wirklich nicht allzu appetitlichen Ereignisse nichts zu tun. (und mit Chaosmagie schon gar nicht) Rein empirisch gesehen, besteht zwischen weltanschaulicher Orientierung und Neigung zu kriminellen oder soziopathischen Handlungen kein signifikanter Zusammenhang. Man kann also den Vetretern libertinistischer oder nihilistischer Weltanschaaung durchaus Vertrauen – sie sind nicht übler als jeder durchschnittliche Christ oder Moslem oder Humanist – of t sind es sogar recht nette Wesen und auf jeden Fall unterhaltsamer als Zeitgenossen mit korrekter Weltanschaung. In bezug auf die Chaosmagie, ist das „alles ist erlaubt“ wie gesagt, nicht von ethischer sondern von praktischer und irgenwie auch von philosophischer Relevanz. In den meisten chaosmagischen (und auch in den meisten anderen magischen) Organisationen gibt es durchaus Regeln und die Frage, ob irgendwelche Gräueltaten erlaubt sind, ist nicht relevant, denn sie werden einfacht nicht geduldet. Das alles ist nicht sehr schwer zu verstehen, wenn man sich des Unterschiedes zwischen einem ontologischen Statement und einem sozialen Konsens bewusst ist. Das ontologische Statement besagt, daß das Sein so beschaffen ist, dass alles erlaubt ist – ob es dem ins Sein geworfenen Menschen nun gefallt oder nicht. Alles ist immer und überall erlaubt, daran kann niemand etwas ändern (das besagt das Statement – ob es sich wirklich so verhält, ist eine andere Frage). Aber es gibt Gesetzte und Regeln, die nur im Konsens einer sozialen Gruppe entwickelt werden können. Solche Gesetzte und Regeln besagen nicht, was „wahr“ ist, sondern legen fest was geduldet wird. Diese Regeln sind relativ, d.h. sie können sich auch irgendwann mal ändern, wie sich eben alles irgendwann mal ändert. Die Akzeptanz des „alles ist erlaubt“ als ontologisches Statement, hat jedoch durchaus Konsequenzen für die praktische Gestaltung der magischen Arbeit – d.h. grundsätzlich herrscht hier völlige Freiheit – es gibt nur die Grenzen, die wir uns selbst aus guten Gründen setzen. Und diese Grenzen rechtfertigen sich eben nicht aus einer „höheren“ Wahrheit, sondern aus einem sozialen Konsens. In dieser Hinsicht bin ich ausnahmsweise mal nicht einer Meinung mit dem Papst. Begriffe wie „Sakrileg“ oder „Blasphemie“ sind der Chaosmagie fremd. Es gibt keine „magischen“ Regeln und Gesetze, die die Gestaltung von chaosmagischen Arbeiten einschränken könnten. Ein erfolgreiches Ritual ist ein gutes Ritual – egal ob nun den magischen Traditionen entspricht oder nicht. Es geht hier nicht um die – bei Kindern sehr verständliche – Freude am Verbotenen : endlich mal all das tun dürfen, was an sich Verboten ist. Das ist ja das schöne am Erwachsensein, dass man so etwas nicht mehr nötig hat, oder zumindest erkannt hat, dass die Befriedigung die aus solchem Handeln entspringt eine recht kurzfristige ist und einen der Freiheit auch nicht näher bringt. Es geht vielmehr um eine Befreiung von Konzepten, die einen direkten Zugang zu den kreativen Möglichkeiten der Magie ermöglicht – nicht das Verbotene zu tun bringt Freiheit, sondern das noch nie zuvor getane zu tun, sich das Vorzustellen, was sich noch nie zuvor im Bewusstsein eines Menschen manifestierte, Zugänge zu finden, die bisher unbekannt waren. Eine Fixierung auf das, was explizit verboten ist, würde das „alles ist erlaubt“ seiner wesentlichen Potenz berauben. In einer von religiösen Fundamentalismus geprägten Gesellschaft mag sich dies anders verhalten, aber in seiner solchen Leben wir zum Glück nicht mehr so ganz und hoffentlich in Zukunft noch weniger als heute. Wenn nichts wahr ist, hängt alles von der Summe der Gegebenheiten ab – oder einfach gesagt: Es gibt Rituale, in denen die der Osten wirklich da lokalisiert werden sollte, wo die Sonne aufgeht und es gibt andere in denen die Himmelsrichtungen willkürlich festgelegt werden können. Wann das eine oder das andere der Fall ist, lässt sich nur daran erkennen, ob es funktioniert. Aus Erfahrungen zu lernen und sich doch nicht durch Erfahrungen beschränken zu lassen, ist eine Haltung, die in der Chaosmagie angestrebt wird. Welche Rituale aus einer solchen Haltung entstehen können, nun, dies kann nur die chaosmagische Praxis zeigen. Ein weiser (?) Mann, dem dies heute vielleicht peinlich ist (?) , sagte einst, die Religion in der postmodernen Welt, pendele zwischen unfreiwilliger Komik und Seichtheit – ein weniger an unfreiwilliger Komik bedinge ein mehr an Seichtheit und umgekehrt. Als eine neue Form der Herangehensweise an jene Bereiche, die bislang vorwiegend von Religionen (institutionelle und nicht-institutionelle) abgedeckt wurden, machte er etwas aus , das er „Psychonautik“ nannte – die Erfoschung der menschlichen Bewußtseinswelten , die der unfreiwilligen Komik durch ihren weitgehenden Verzicht auf Dogmen und Glaubenswahrheiten entgeht und der Seichtheit durch die Intensität des Erlebens. Etwa zu gleichen Zeit und unabhängig davon, entwickelte Caroll eine Chaosmagische Psychonautik, die u.a. eben dies anstrebt : größtmögliche Intensität der Erfahrung bei gleichzeitigem Verzicht auf Dogmen und Glaubenswahrheiten. Eine vom Glauben unabgängige Form der Intensität und Unbedingtheit zu entwickeln, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein erfolgreiches praktizieren von Chaosmagie. So ist es möglich, Magie zu wirken und zu erfahren, gleich ob man Abgründe bereist, oder sich absurden Lächerlichkeiten hingibt. Mit dieser Haltung lassen sich psychonautische Experimente ebenso durchführen, wie handfeste Erfolgsmagie. Wenn aus dieser Haltung in einem dieser neuen Äonen mal eine Spiritualität der Freiheit als allgemeiner Grundton entstehen würde, so wäre dies doch eigentlich ganz in Ordnung. Natürlich gibt es die chaosmagische Metatheorie, die ganze Sache mit Chaos und Kia usw, – dies sei doch auch eine Form von „Wahrheit“, von Dogma und somit ein Widerspruch in sich,.ließe sich einwenden. Ok, geschenkt, letzten Endes endet jede Theorie und Metatheorie in inneren Widersprüchlichkeiten. Das liegt in der Natur der Sache und ist eben einfach so. Ist ja auch nicht weiter schlimm – solange man davon in der Praxis nicht eingeschränkt wird. Solange nicht gesagt wird; „ nein das darrf man nicht so machen, wegen Chaos und Kia und so, das geht doch nicht….“ sagt in der Chaosmagie aber niemand. Und solange dies so ist, bezieht sich die Chaosmagie zwar auf eine Metatheorie, aber eben nicht auf Dogmen oder Wahrheiten. Natürlich kann man nicht Chaosmagier/In sein und gleichzeitig unbegrenzt lange absolute Wahrheiten proklamieren. (nur so zum Spaß kann man selbst das ein Weilchen lang machen…) Mit diesem inneren Widerspruch, lässt sich meiner Erfahrung nach ganz gut leben. Eine oft missverstandene Methode der Chaosmagie ist der sogenannte Paradigmenwechsel – d.h. der Wechsel zwischen unterschiedlichen Glaubens- und Magiesystemen. Dieser kann sich auf einen bestimmten Zeitraum beziehen, in dem angestrebt wird, möglichst tief in ein gewähltes Paradigma einzudringen, oder auch nur auf ein bestimmtes Ritual. Paradigmenwechsel dient ganz offensichtlich der Flexibilität, der Relativierung eigener Überzeugungen und ganz allgemein der Erweiterung des Horizontes. Das ist banal und an sich nicht weiter überraschend. Paradigmenwechsel ist ein Stück Freiheit und Bereicherung des Bewusstseins – mehr steckt in der Regel nicht dahinter. Dem Klischee vom würfelnden Chaosmagier, der seinen Glauben von den Launen des Zufalls abhängig macht, wird zwar ab und an entsprochen, doch kommt dies eher selten vor. Offensichtlich ist Paradigmenwechsel etwas, das sich im Zuge der Zusammenarbeit geistig unabhängiger Menschen zwangsläufig ereignet, ohne dass immer eine explizite Absicht dahinterstecken muß. Das Argument, dass willentlicher Paradigmenwechsel eigentlich ein Ding der Unnmöglichkeit ist, dass auch ein Chaosmagier sein Metaparadigma – nämlich das der Chaosmagie hat – und niemals das reine Bewusstsein eines gläubigen Moslems, Vodoo Priesters oder Thelemiten haben könne, ist richtig, geht aber an der Sache vorbei. Natürlich, ein Chaosmagier wird niemals das reine Bewusstsein z.B. eines gläubigen Hindu haben – er wird das Bewusstsein eines Chaosmagiers haben, der sich in den Hinduismus vertieft – oder in den Islam, den Vodoo, den Schamanismus usw. Es ist nicht das „reine“ Bewusstsein, es ist vielmehr eine neuartige Form von Bewusstsein. Der Punkt ist, dass sich diese Vielzahl möglicher unterschiedlicher Bewusstseinserfahrungen deutlich voneinander Unterscheiden – ein chaosmagischer Zugang zu Shiva fühlt anders an, als ein chaosmagischer Zugang zu Legba usw. D.h. das Spektrum möglicher Erfahrungen und Sichtweisen, wird durch diese Art des Paradigmenwechsels erheblich erweitert – und damit erfüllt der Paradigmenwechsel seinen Zweck Irgendwann lässt man dann vielleicht alle Konzepte hinter sich und irgenwann gibt vielleicht diesen jemand nicht mehr, der was auch immer hinter sich lässt. Oder vielleicht doch…. Die „Reinheit“ der Erfahrung tut dabei nichts zur Sache – wer möchte schon Erbsen zählen ? Ein paar Worte zur Chaosmagie und dann werden es immer mehr und es könnte noch lange so weitergehen…… Aber irgendwann muss doch auch mal Schluss sein. Zumindest vorläufig. Stimmt.
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