Schau ma mal was passiert soll sein das Ganze des Gesetzes


von Bär

Samhain, die Zeit, da sich die Tore zu den Welten der Toten öffnen, der nahende Winter als Zeit des Rückzugs und der Besinnung – Altes stirbt, der Winterschlaf bietet Zeit zur Regeneration um langsam Platz für Neues zu schaffen. Was für eine bessere Zeitqualität könnte ich mir also aussuchen, um mal ordentlich auf den Putz zu hauen? Oh, und da das Ganze auch noch unter dem Deckmantel der Illuminationsarbeit geschieht, freut sich der Rebell in mir grad wie ein kleines Kind, das in Anbetracht der ersten Schneeflocken schon eine richtig fette Schneballschlacht plant.

Also, dann schau’ ma mal was passiert, wenn ich auf meinen alten Kumpel Jesus höre und den ersten Ball werfe…

Back to the roots!

Nach all den Jahrzehnten der handfesten magischen Praxis, der Fehler, der Glücksmomente und der unglaublich vielfältigen Erfahrungen die all die Chaosmagier da draußen gemacht haben, will ich meinen Teil dazu beisteuern, jetzt ganz bewusst einen Schritt zurück zu machen. Es wird Zeit, Chaosmagie aus ihrer obsessiven Betriebsblindheit herauszuholen. Laßt uns Chaosmagie auf die philosophische Metaebene zurückbringen, auf der sie ursprünglich angefangen hat. Denn es ist diese Metaebene, wo derzeit ihr größtes Potential liegt. Nur wenn wir nach all den Experimenten irgendwann einmal logisch wieder zur Ausgangsüberlegung zurückkehren, können wir Revue passieren lassen, verarbeiten und weiter wachsen. Nutzen wir die Zeit um nachzudenken, Erkenntnisse zu vergleichen, uns durch Neugelerntes zu verbessern und wiederum Anderes über den Haufen zu werfen. Der zyklische Kreislauf der Evolution – Er gilt ganz offensichtlich auch für die Chaosmagie. Ob wir das nun wahrhaben wollen, oder nicht.

Paradigmenreich oder orientierungsslos?

War Chaosmagie vor einiger Zeit noch das radikale Non-plus-ultra der magischen Szene, scheint sie einige Jahre nach der Jahrtausendwende irgendwie zu stagnieren. Schaut man nämlich etwas genauer hinter die Kulissen von neu erschienenen Büchern, Ritualideen, etc., ist es erschreckend zu erkennen, wo die angebliche Magie des 5. Äons oft tatsächlich steht. Gefangen in den Wirren, Ängsten und Blockaden des Äons des Verborgenen wird wiedergekäut was uns schon seit Jahrzehnten unter die Finger kommt. Oder wie der geniale Matthew McConaughey in der Fernsehserie “True Detective” so schön bei Nietzsche geklaut hat: “Time is a flat circle!” – Endlos sind wir dazu verurteilt, unsere Fehler und Taten immer aufs Neue zu wiederholen. Zugegeben, der Denkhorizont des durchschnittlichen Chaosmagiers ist deutlich erweitert. Aber dennoch: Er ist immer noch ein verdammter Kreis!! Lasst uns doch wenigstens eine Dimension hinzufügen und ´ne Kugel draus machen! BITTE! Denn so lustig es manchmal auch sein mag eine magische Standardtechnik in das hunderste Paradigma aus Hollywood’scher Kinderserienproduktion zu verpack… Ach, fuck it! Wem will ich hier was vormachen? Diese Ideen sind einfach stinklangweilig! Punkt. Aus! Ich kann sie nicht mehr sehen, die vermeintlich kreativen Auswüchse des chaosmagischen Ritualspammings – noch eine Technik und noch ein Paradigma – alles nur um sich rituell mit Sakramenten zu besaufen, noch eine Tradition zu verwursten oder mir die wenigen wirklich guten Phantasiewelten genialer Autoren auch noch zu versauen. Egal wie oft ich Planetenmagie, Evokation, Sigillen oder Kartenlegen mit rosa Schleifchen neu verpacke, es sind und bleiben Planetenmagie, Evokation, Sigillen und Kartenlegen. Versteht mich nicht falsch, daran ist Nichts verkehrt. Diese Herangehensweise funktioniert magisch immer noch super. Wissen wir, deswegen machen wir‘s auch ständig. Nur haben wir das alle halt inzwischen schon tausendfach gesehen. Also, auch wenn Du heute Deine Sigille mittels technomusikuntermaltem Voodooritual im Harry-Potter-Style in Hello-Kitty-Kuverts abschickst ändert sich nichts daran, daß die Idee so weit von kreativ und radikal weg ist, wie Obama vom Friedensnobelpreis. (Verdammt… Ihr wisst, was ich meine!) Und ja, ich fasse mir damit gern auch an die eigene Nase. Manchmal – auch öfters – sind meine Ritualideen ebenso stinklangweilig. Manchmal – auch öfters – ist stinklangweilig auch völlig ausreichend. Aber stinklangweilig sollte nun wirklich nicht der Anspruch eines Chaosmagiers sein. – Und was hat das alles jetzt mit Illumination zu tun? Geduld, werter Leser, das kommt wahrscheinlich noch, falls ich im Rahmen dieser Artikelserie irgendwie die Kurve kriege. Der gute Peter J. Carroll hat mal diesen schönen Satz geprägt: Magick will not free itself from occultism until we have strangled the last astrologer with the guts of the last spiritual master. Oder etwas anders ausgedrückt: So lange wir noch irgendjemandem hinterherlaufen, glauben anstatt selbst zu erfahren, können wir uns das mit der wirklich freien Magie dorthin stecken wo selten die Sonne scheint. Was in der Theorie zunächst total plausibel erscheint, hat in der Praxis nur leider so seine Tücken. Wurde in vielen mystischen Lehren und New-Age-Kulturen oft ein mehr oder weniger strenger Weg von irgendeinem Heilsbringer vorgegeben, versucht die Chaosmagie im Normalfall den ganzen unnötigen Ballast an Traditionen, (überkommenen) Glaubenssätzen und Gurus über Bord zu werfen. Oder scheinbar unvereinbare Dinge werden zu etwas völlig Neuem vermischt, und der Phantasie sind hierbei keine Grenzen gesetzt. Chaosmagie ist die Antithese zu all den verstaubten Lehren, Tabus, zu den elitären Priesterkasten mit ihrem verschlüsselten “Geheimwissen” aus angeblich längst vergangenen Hochkulturen. Kurz gesagt: Die Grundidee der Chaosmagie war es, den Kern dessen zu erforschen, was landläufig alles als “Magie” bezeichnet wird. Ja, irgendwann wollten wir mit diesen Erkenntnissen sogar in Bewußtseinsebenen vorstoßen, die kein Mensch zuvor je betreten hatte. Wo sind sie hin, die hehren Ziele? Klar, dafür musste man Mal irgendwo anfangen. Also wurden zuerst die bestehenden, mitunter veralteten Modelle untersucht und bis ins kleinste Detail zerlegt. Das schafft der Chaosmagier von heute inzwischen auch sehr gut – also das Zerlegen. Oft leider ein bißchen zu gut. Wenn ich nämlich bei einem Auto das Lenkrad, die Bremsscheiben und den Tacho rausreiße, dann kann das manchmal extrem sinnvoll sein – z.B. wenn ich mich in einer Tuningwerkstatt befinde oder zumindest einen groben Plan von Mechanik habe. Ansonsten ist das eher so, als würde ich einem dreijährigen Kind Legosteine hinwerfen und erwarten, daß es ein funktionierendes Raumschiff daraus baut. Nun, soweit so gut. Irgendwann hat der professionelle Zerleger also jede Schraube tausendmal gesehen und auch auf alle erdenklichen Arten zusammengesteckt. Und, versteht mich nicht falsch, ich finde es großartig wie viele Strukturen und Muster heutzutage hinterfragt werden. Ich liebe die oft wirren und grenzgenialen Auswüchse der Chaosmagie. Aber wenn ich bei aller Hinterfragerei, und vor lauter “Ich stecke einfach gerne Dinge zusammen”, irgendwann vollkommen vergesse, daß ich eigentlich nur mein Auto tunen wollte um damit sowas wie “die Existenz” besser zu erforschen, dann läuft irgendetwas schief. Sehr schnell kann so aus einer revolutionären Energie, die Gigantisches leisten könnte, der pubertierende Mittelfinger werden, den man einfach nur noch aus Trotz immer und immer wieder der vorherigen Generation von Magiern hinhält. Kreativ und revolutionär ist das ab einem gewissen Punkt nun wirklich nicht mehr.

Wir sind alle Individuen! – Ich nicht!

Ist an mancher dieser achtlos gestrichenen “okkult-spirituellen” Ideen möglicherweise doch ein wenig mehr Wahrheit dran, als wir uns gerne eingestehen würden? Vielleicht geben uns einige dieser Lehren doch sowas wie eine grobe Stoßrichtung vor? Vielleicht liegen schon irgendwo brauchbare Baupläne für unser Raumschiff herum, die bloß etwas Feinschliff benötigten? Vielleicht müssen wir das Rad nicht JEDES Mal neu erfinden? Vielleicht wird es Zeit zu akzeptieren, daß das Rad inzwischen gut genug funktioniert und erforscht ist, um uns endlich auch mal auf den Antrieb zu konzentrieren? Nur so als Idee … Soweit ich mich erinnere, hieß unser gemeinsames Motto nämlich früher: “Möglicherweise gibt es keine absolute Wahrheit!” Tja. Irgendein Idiot hat sich offenbar das Wort “möglicherweise” rituell weg gesoffen. Dann ist er über einem Buch von Crowley eingeschlafen und hat am nächsten Tag kräftig gerülpst: “Schau’ ma mal was passiert, soll sein das Ganze des Gesetzes!” Ja, und weil das so total lustig war, sind wir ihm offenbar alle gleich laut gröhlend hinterher gelaufen. (Wie war das nochmal mit diesem “aus der Geschichte lernen”?) https://www.youtube.com/watch?v=QereR0CViMY Einfach mal als Elefant rein in den Porzellanladen. Endlich Omas häßliches Teegeschirr an die Wand pfeffern. Die große Sandburg vom inselbegabten Indigo-”meine-Eltern-haben-keinen-Plan-von-Erziehung”-Arschlochkind kaputt treten. Mal eben nen schwarzmagischen Blitzkrieg führen, weil uns der spießige Nachbar am Rasenmähertraktor so richtig auf den Sack geht, während wir in weißen Tennissocken und Jesuslatschen unsere eigenen Gartenzwerge putzen! Keine Regeln, alles ist erlaubt. Hach, waren das doch schöne Zeiten. Und da Chaosmagie ja auch einfach viel zu gut ist um wahr zu sein, liegen wir nach getaner Arbeit nun selbstgefällig in unseren kuscheligen Chaosstern-Meditationskissen herum. Wir klopfen uns beim chilligen Duft von Räucherstäbchen gegenseitig bestätigend auf die Schulter, denn alles andere wäre in Zeiten politischer Korrektheit ja auch anmaßend. Chaosmagie hat heute so ein Bisschen was vom olympischen Gedanken: Hauptsache dabei sein! – Alles andere ist ja nur ein Paradigma. Die Revolution gegen alle Dogmen und absoluten Wahrheiten hat ihr eigenes, ultimatives Dogma erschaffen: Absolute Beliebigkeit. Wir haben vollkommen vergessen, daß es möglicherweise eben doch irgendeine gemeinsame Wahrheit gibt. Eine Wahrheit, nach der es sich definitiv zu suchen und zu streben lohnt. Ich jedenfalls hab langsam die Schnauze voll davon mit Magiern im tausende Jahre alten Kreis zu stehen, wenn wir schon längst in ‘ner Kugel schweben könnten. Es wird echt Zeit eins der rosa flauschigen Einhörner zu invozieren und dafür zu zaubern, daß aus uns kotzlangweiligen Biedermeiern endlich die geilen Typen werden für die wir uns alle ständig halten! Und jetzt denkt am Besten selbst drüber nach, was das alles mit Illumination zu tun haben könnte.

Over and out!

Bär

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