Der Ungeborene und was ich daraus gemacht habe


von Frater Fuchs

Nachdem ich jahrelang die Version Crowleys aus „Liber Samekh“ benutzt hatte, stieß ich durch einen meiner Brüder auf einen spannenden Artikel, der mich Crowleys Text überarbeiten ließ… Was dabei heraus kam könnt Ihr hier lesen…

Der Ungeborene ist ein Name für das, was auf jeden Menschen, der sich ernsthaft mit Magie auseinandersetzt früher oder später wartet. Andere Namen sind beispielsweise: der heilige Schutzengel, das höhere Selbst oder das göttliche Bewusstsein. Der Ungeborene verkörpert das Thelema, den wahren Willen.

Der wahre Wille ist ein mystisches Konzept: Es wird von vielen Menschen angenommen, dass man bei der Anrufung des wahren Willens vom ganzen Universum unterstützt wird, und dass zwei wahre Willen nie gegensätzlich sein können. Daraus folgt, dass man um dem eigenen wahren Willen zu folgen jeden anderen wahren Willen respektieren muss, bzw. dass man erkennt, dass der eigene wahre Wille mit den anderen wahren Willen harmonisch ist. Daher gibt es zu Thelema einen entsprechenden zweiten Part, genannt „Agape“, was soviel viel „allumfassende Liebe“ bedeutet.

Wer auf der Suche nach Thelema ist, ist auf der Suche nach sich selbst. Es ist ein langer, anstrengender Prozess der Selbstfindung, bei dem man versucht, falsche Selbstbilder zu zerstreuen, fremde Erwartungen und Projektionen von dem wahren Selbst zu unterscheiden. Die Gefahr, der man sich dabei aussetzt ist die, dass man den heiligen Schutzengel mit einem Dämon verwechselt, der genau diese fremden Projektionen und falschen Selbstbilder, die man ablegen will personifiziert. Viele kennen ihn unter dem Namen „Choronzon“. Choronzon ist die Selbstlüge. Er ist all das, von dem man glaubt, dass es zum Selbst gehört, das aber eigentlich nur eine Maske ist, eine Verkleidung, mit der man sein wahres Ich vor der Welt versteckt oder mit der man vortäuscht, ein Anderer zu sein. Diesen Dämon zu identifizieren ist das Wichtigste, wenn man die Anrufung des Ungeborenen praktiziert. Es heißt, dass je öfter man den Ungeborenen beschwört, sich das Bild des heiligen Schutzengels wandelt und man erst nach und nach erkennt, wie dieser wirklich „aussieht“, befreit von den Lügen Choronzons.

Warum ist Selbstfindung besonders für Magier so wichtig? Kann man das nicht einfach lassen und Magie praktizieren, ohne diesen anstrengenden Prozess zu durchlaufen? Ja. Kann man. Aber der Punkt ist der: Magier versuchen, ihren Willen zu manifestieren. Magie funktioniert mit Glaubens- und Willenskraft. Sie ist ein unglaublich mächtiges und gefährliches Werkzeug. Und wenn man Magie praktiziert und dabei nicht den eigenen Willen manifestiert, sondern die Selbstlüge Choronzon, kann man sich damit in den eigenen Untergang treiben und im schlimmsten Fall noch andere mitreißen. Die Freiheit, die aus dem eigenen, freien Selbst erwächst ist hingegen die heilsamste Erkenntnis, bzw. „Erleuchtung“, die man in meinen Augen erfahren kann.

Mit anderen Worten: Wenn Du Magie praktizierst ohne auf der Suche nach Dir selbst zu sein, dann kann es Dir passieren, dass Du glaubst, stärker und freier zu werden, dass Du Dich aber währenddessen ohne es zu merken geradewegs in einen schmerzhaften Käfig aus Selbstlügen hinein zauberst, aus dem Du irgendwann nicht mehr ausbrechen kannst.

Liber Samekh

Aleister Crowley, ein Mann, der die thelemitische Bewegung zu Lebzeiten entscheidend prägte, hat einen Text, der aus alten Zauberpapyri übersetzt wurde als „Liber Samekh“ veröffentlicht. Die darin enthaltene Anrufung ist bekannt als die „Anrufung des Ungeborenen“. Sie lautet wie folgt:

Dich rufe ich an, den/die Ungeborene/n. Dich, der/die die Erde und den Himmel erschuf. Dich, der/die die Nacht und den Tag erschuf. Dich, der/die die Dunkelheit und das Licht erschuf. Du bist ASAR UN-NEFER, den/die keiner je gesehen hat. Du bist IA-BESZ. Du bist IAAPOPHRASZ. Du hast unterschieden zwischen den Gerechten und den Ungerechten. Du hast das Weibliche und das Männliche erschaffen. Du hast den Samen und die Frucht hervorgebracht. Du hast die Menschen gemacht, dass sie einander lieben und dass sie einander hassen. Ich bin [Name], Dein/e Prophet/in, dem/der Du Deine Mysterien, die Zeremonien von KHEM, anvertraut hast. Höre Du mich an, denn ich bin der Engel von PTAH-APO-PHRASZ-RA: dies ist Dein wahrer Name, der den Propheten von KHEM überliefert ist. (Luft) Höre mich an: AR, THIAO, RHEIBET, A-THELE-BER-SET, A, BELATHA, ABEU, EBEU, PHI-THETA-SOE, IB, THIAO! Höre mich an und mache mir alle Geister untertan, auf dass ein jeder Geist des Firmamentes und der Himmel, auf der Erde und unter der Erde, auf trockenem Land und im fließenden Wasser, der tosenden Luft und dem brausenden Feuer und jeder Zauber und jede Geißel Gottes mir gehorchen möge! (Feuer) Höre mich an: AR-O-GO-GO-RU-ABRAO, SOTOU, MUDORIO, PHALARTHAO, OOO, AEPE, den/die Ungeborene/n! Höre mich an und mache mir alle Geister untertan, auf dass ein jeder Geist des Firmamentes und der Himmel, auf der Erde und unter der Erde, auf trockenem Land und im fließenden Wasser, der tosenden Luft und dem brausenden Feuer und jeder Zauber und jede Geißel Gottes mir gehorchen möge! (Wasser) Höre mich an! RU-ABRA-FIAO, MRIODOM, BABALON-BAL-BIN-ABAFT, ASALON-AI, APHEN-IAO, I, PHOTETH, ABRASAX, AEOOU, ISCHURE, Mächtige/r und Ungeborene/r! Höre mich an und mache mir alle Geister untertan, auf dass ein jeder Geist des Firmamentes und der Himmel, auf der Erde und unter der Erde, auf trockenem Land und im fließenden Wasser, der tosenden Luft und dem brausenden Feuer und jeder Zauber und jede Geißel Gottes mir gehorchen möge! (Erde) Ich rufe Dich an: MA, BARRAIO, IOEL, KOTHA, ATHOR-E-BAL-O, ABRAFT! Höre mich an und mache mir alle Geister untertan, auf dass ein jeder Geist des Firmamentes und der Himmel, auf der Erde und unter der Erde, auf trockenem Land und im fließenden Wasser, der tosenden Luft und dem brausenden Feuer und jeder Zauber und jede Geißel Gottes mir gehorchen möge! (Geist) Höre mich an: AFT, ABRAFT, BAS-AUMGN, ISAK, SA-BA-FT. Er/Sie ist der/die Herr/in der Götter: er/sie ist der/die Herr/in des Universums: er/sie ist es, den/die die Winde fürchten. Er/Sie ist es, der/die durch seine/ihre Erschaffung der Stimme Herr/in aller Dinge ist: König/in, Herrscher/in und Helfer/in. Höre mich an und mache mir alle Geister untertan, auf dass ein jeder Geist des Firmamentes und der Himmel, auf der Erde und unter der Erde, auf trockenem Land und im fließenden Wasser, der tosenden Luft und dem brausenden Feuer und jeder Zauber und jede Geißel Gottes mir gehorchen möge! IEOU, PUR, IOU, PUR, IAFTH, IAEO, IOOU, ABRASAX, SABRIAM, OO, FF, AD-ON-A-I, EDE, EDU, ANGELOS TON THEON, ANLALA, LAI, GAIA, AEPE, DIATHARNA THORON! Ich bin Er/Sie! Der Ungeborene Geist, der/die mit den Füßen sieht: machtvoll und das unsterbliche Feuer! Ich bin Er/Sie! Die Wahrheit. Ich bin Er/Sie! Der/Die es hasst, dass Böses in der Welt zu finden sei! Ich bin Er/Sie, der/die blitzet und donnert! Ich bin Er/Sie, aus dem/der das Leben auf die Erde regnet! Ich bin Er/Sie, dessen/deren Mund ewig lodert! Ich bin Er/Sie, der/die erschafft und dem Licht zuformt! Ich bin Er/Sie, die Gnade der Welten! „Das mit einer Schlange umgürtete Herz“ ist mein Name! Tritt hervor und folge mir und mache mir alle Geister untertan, auf das ein jeder Geist des Firmamentes und der Himmel, auf der Erde und unter der Erde, auf trockenem Land und im fließenden Wasser, der tosenden Luft und dem brausenden Feuer und jeder Zauber und jede Geißel Gottes mir gehorchen möge! IAO! SABAO! Dies – sind – die – Worte!

Der Ungeborene ist gar nicht der Ungeborene…

Bis vor kurzem habe ich diese Anrufung verwendet, um meinen heiligen Schutzengel anzurufen und zu invozieren und so meinen wahren Willen besser zu erkennen. Dann aber hat mir einer meiner Ordensbrüder einen Artikel gezeigt, der Fehler und Missverständnisse der Übersetzung, die Crowley nutzte, aufzeigt. Der Artikel stammt von einem gewissen „Frater Agis“, der in Zusammenarbeit mit „Soror Pallas“ und „Frater Erec“ eine bessere Übersetzung geschrieben hat. Die Übersetzung, die Crowley benutzte stammt von C. W. Goodwin, sie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht. Unglücklicherweise traten hier einige Fehler auf, die den Text in ein völlig falsches Licht stellten. Der wohl gravierendste Fehler war die Annahme, bei dieser Zauberformel handle es sich um einen reinen Invokationstext. Das ist nicht der Fall. Es handelt sich um einen Exorzismus, bei dem (ähnlich wie in schamanischen Kulturen) ein höheres Wesen invoziert wird, um den Dämon aus dem Betroffenen mit göttlicher Macht zu entfernen. Die Fehlannahme, es handle sich um ein reines Invokationsritual entstand dadurch, dass das griechische Wort „Daimonos“ sowohl als „Geist“ als auch als „Dämon“ verstanden werden kann und dass bei der Übersetzung davon ausgegangen wurde, mit „Daimonos“ sei allein das Wesen gemeint, das invoziert wird. Mit „Komm hervor und folge mir“ ist aber eigentlich der Dämon gemeint, der weichen, bzw. dem Befehl des Akephalos/des Magiers gehorchen soll.

Weiterhin ist das Wesen, das invoziert wird nicht der „Ungeborene“, oder wie es im Englischen heißt: „the bornless one“. „Akephalos“ heißt korrekt übersetzt „der Kopflose“ und ist ein Wortspiel: Der Kopflose ist nicht wörtlich zu verstehen sondern so, dass Akephalos kein Oberhaupt hat, keinen König, keinen Herrscher. Er ist der Eine, der Allmächtige, der freie Gott. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit ist die, dass Akephalos der „Gesichtslose“ ist, was bedeutet, dass man ihn nicht unbedingt als Gott erkennen kann oder dass ihn niemand in seiner wahren Gestalt erblicken kann. Was mit dem Begriff „der Ungeborene“ gemeint ist, nämlich dass Akephalos nie geboren wurde, weil er schon seit Anbeginn der Zeit da war, kann vielleicht besser verstanden werden, wenn man „ungeboren“ mit „ewig“ ersetzt. Ansonsten weckt das Wort „bornless“ oder „ungeboren“ meiner Meinung nach viel zu Schnell Assoziationen mit Abtreibung.

Frater Agis hat diesen Artikel nicht geschrieben, um seine Leser dazu aufzufordern, den Text nur noch im korrekten Kontext zu benützen, weil er nur dafür gedacht ist und weil er sonst nicht richtig funktioniert oder falsch ist. Vielmehr will er darauf aufmerksam machen, dass die Grundlage des Liber Samekh eine falsche Übersetzung ist und daher an einigen Stellen keinen Sinn macht. Eine neue Übersetzung kann helfen, ein besseres Verständnis dieser Zauberformel zu entwickeln und sie für andere Zwecke als einen Exorzismus entsprechend abzuwandeln. Es spricht ja nichts dagegen, diesen Text auch in einem anderen Kontext zu benützen, man muss ihn nur richtig editieren. Dementsprechend habe ich die in dem Artikel veröffentlichte neue Version benützt, um eine eigene Version der Anrufung meines heiligen Schutzengels zu schreiben. Ich werde die Übersetzung des Artikels nicht hier aufschreiben, vermutlich hat Frater Agis die Rechte… aber ich werde meine persönliche Anrufung hier aufschreiben. Das ist sozusagen eine Mischung aus alten Zauberpapyri, Crowley, Agis und Fuchs:

Ich rufe Dich an, den, der ohne Herrscher ist! Dich, der erschuf Himmel und Erde! Dich, der erschuf Tag und Nacht! Dich, der erschuf Dunkelheit und Licht! Du bist ich selbst, vervollkommnet, den niemand je gesehen hat! Du bist die Wahrheit in der Materie! Du bist die Wahrheit in der Bewegung! Du hast unterschieden zwischen den Gerechten und den Ungerechten! Du machtest Männlich und Weiblich! Du brachtest hervor Samen und Frucht! Du formtest die Menschen, auf dass sie einander lieben und einander hassen! Ich bin Fuchs, Dein Prophet, dem Du Diene Mysterien anvertraust, die Zeremonien Deiner Wirklichkeit! Du brachtest Feuchtigkeit und Trockenheit hervor und das, was all die lebendigen Geschöpfe nähret! Höre mich, denn ich bin der Engel meiner Vollkommenheit! Dies ist Dein wahrer Namen, wie er Deinen Propheten verkündet wird! Höre mich: AR THIAO REIBET ATHELEBERSET A BLATHA ABEU EBEN PHI CHITASOE IB THIAO Höre mich und mache mir alle Geister untertan, auf dass jeder Geist des Firmamentes und des Äthers, auf der Erde und unter der Erde, auf trockenem Boden und in fließendem Wasser, in wirbelnder Luft und in rasendem Feuer und jeder Zauber, jeder Fluch und jede Geißel Gottes mir gehorsam sei! Ich rufe Dich, den gewaltigen und unsichtbaren Gott im leeren All! AROGOGOROUBRAO SOCHOU MODORIO PHALARCHAO OOO APE Du Ewiger! Höre mich und mache mir alle Geister untertan, auf dass jeder Geist des Firmamentes und des Äthers, auf der Erde und unter der Erde, auf trockenem Boden und in fließendem Wasser, in wirbelnder Luft und in rasendem Feuer und jeder Zauber, jeder Fluch und jede Geißel Gottes mir gehorsam sei! Höre mich: ROUBRIAO MARIODAM BALBNABAOTH ASSALONAI APHNIAO I THOLETH ABRASAX AEOOY ISCHURE Mächtiger und Ewiger! Höre mich und mache mir alle Geister untertan, auf dass jeder Geist des Firmamentes und des Äthers, auf der Erde und unter der Erde, auf trockenem Boden und in fließendem Wasser, in wirbelnder Luft und in rasendem Feuer und jeder Zauber, jeder Fluch und jede Geißel Gottes mir gehorsam sei! Ich rufe Dich: MA BARRAIO IOEL KOTHA ATHOREBALO ABRAOTH Höre mich und mache mir alle Geister untertan auf dass jeder Geist des Firmamentes und des Äthers, auf der Erde und unter der Erde, auf trockenem Boden und in fließendem Wasser, in wirbelnder Luft und in rasendem Feuer und jeder Zauber, jeder Fluch und jede Geißel Gottes mir gehorsam sei! Ich rufe Dich an! (warten, bis er sich manifestiert/spürbar macht) Dies ist er, der Herr der Götter! Dies ist er, der Herr des Universums! Dies ist er, der die Stimme gemacht! Dies ist er, den die Winde fürchten und dessen Befehlsgewalt ihn zum Herrn aller Dinge macht, zum König, Regenten und Helfer! Höre mich an und mache mir alle Geister untertan, auf dass jeder Geist des Firmamentes und des Äthers, auf der Erde und unter der Erde, auf trockenem Boden und in fließendem Wasser, in wirbelnder Luft und in rasendem Feuer und jeder Zauber, jeder Fluch und jede Geißel Gottes mir gehorsam sei! Höre mich: IEOU PYR IOU PYR IAOT IAEO IOOU ABRASAX SABRIAM OO YY EU OO YY ADONAIE EDE EDY ANGELOS TOU-THEOU ANLALA LAI GAIA APA DIACHANNA CHORYN (diese letzte Textzeile wiederholen, bis das Bewusstsein sich verschiebt) Ich bin er, der Gesichtslose, der Sicht in den Füßen hat, stark und das unsterbliche Feuer! Ich bin er, die Wahrheit! ich bin er, der es hasst, dass Übel mit der Welt verflochten wird! ich bin er, der blitzet und donnert! ich bin er, von dem des Lebens Schauer auf Erden niedergehen! Ich bin er, dessen Mund flammt auf immerdar! Ich bin er, der Zeugung und Ende bringt! ich bin er, der Empfänger und Künder des Lichts! ich bin er, die Gnade der Ewigkeit! „Schlangenumwundenes Herz“ ist mein Name! Und alle Geister des Firmamentes und des Äthers, auf der Erde und unter der Erde, auf trockenem Boden und in fließendem Wasser, in wirbelnder Luft und in rasendem Feuer und jeder Zauber, jeder Fluch und jede Geißel Gottes sind mir untertan, WIE EIN ARTIGES HÜNDCHEN!!!! IAO. SABAO. Dies sind die Worte.

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