von Frater Cino
Bei Tacitus gibt es einen Passage über die Orakel-Gebräuche der germanischen Stämme der Antike, die sich aus heutiger Sicht sehr verlockend liest: sie scheint das Werfen der Runen mittels 24 Runensteinchen oder Runenhölzchen zu beschreiben, wie es heute in magischen und neopaganen Kreisen üblich ist. Ob die Menschen damals wirklich die Runen als Orakel benutzt haben, und wie sie dabei vorgegangen sein könnten, ist zwar ein spannendes Thema zur Spekulation, aber hier will ich mich bloß von der überlieferten Passage inspirieren lassen, und eine Runenorakel-Methode präsentieren, die mir persönlich sehr gefällt.
„Auspicia sortesque, ut qui maxime, observant. Sortium consuetudo simplex: virgam, frugiferae arbori decisam, in surculos amputant, eosque, notis quibusdam discretos, super candidam vestem temere ac fortuito spargunt: mox, si publice consuletur, sacerdos civitatis, sin privatim, ipse paterfamiliae, precatus deos coelumque suspiciens, ter singulos tollit*, sublatos secundum impressam ante notam interpretatur. Si prohibuerunt, nulla de eadem re in eundem diem consultatio; sin permissum, auspiciorum adhuc fides exigitur. Et illud quidem etiam hic notum, avium voces volatusque interrogare: proprium gentis, equorum quoque praesagia ac monitus experiri; publice aluntur iisdem nemoribus ac lucis candidi et nullo mortali opere contacti: quos pressos sacro curru sacerdos ac rex vel princeps civitatis comitantur, hinnitusque ac fremitus observant. Nec ulli auspicio major fides non solum apud plebem, sed apud proceres, apud sacerdotes; se enim ministros deorum, illos conscios putant. Est et alia observatio auspiciorum, qua gravium bellorum eventus explorant; ejus gentis, cum qua bellum est, captivum, quoquo modo interceptum, cum electo popularium suorum, patriis quemque armis, committunt: victoria hujus vel illius pro praejudicio accipitur.“
Die hervorgehobenen Passagen lassen sich grob wie folgt übersetzen: „Sie schneiden einen Stab, der von einem fruchttragenden Baum abgeschnitten wurde, in Triebe, und nachdem sie diese mit bestimmten Zeichen markiert haben, streuen sie diese nach dem Zufallsprinzip und beiläufig über das weiße Tuch … zum Himmel hinaufblickend, zieht er dreimal ein einzelnes …“ Tacitus schweigt sich darüber aus, wie viele solche Triebe oder Lose von dem Stab abgeschnitten wurden.
Alle Macht der Fantasie
Egal, was Tacitus beobachtet zu haben glaubt: Es reichen vier solche Lose, um alle 24 Runen zu ziehen. Und das ist auch der Grund dafür, dass es sich um ein schnelles Runenorakel handelt: statt mühsam 24 Stückchen abzusägen und danach 24 Runen zu ritzen, schneidet man 4 Triebe vom Stecken, dazu reicht ein Taschenmesser, und das dauert wenige Sekunden.
Nun müssen die vier Triebe markiert werden: der erste bekommt eine Kerbe, der zweite wird zweimal eingekerbt… drei… vier. Fertig ist das Orakel.
Runen werfen
Denke an die Frage, schließe die Augen, streue die Hölzchen vor Dir aus.
Nehme eins, merke Dir die Anzahl der Kerben, lege es zur Seite. Nehme ein zweites und ein drittes, merke Dir jeweils die Anzah der Kerben, lege sie zur Seite. Wichtig: nicht „zurücklegen“ – wenn ein Hölzchen einmal genommen wurde, ist es raus.
Jetzt hast Du eine Folge von drei Zahlen, zum Beispiel 3-2-1.
Interpretieren
Und so kommst Du von diesen drei Zahlen zur Rune. Dazu musst Du die Runenreihe auswendig kennen und die drei Aetts vor Deinem geistigen Auge haben.
Beim ersten Hölzchen hatten wir die Wahl aus insgesamt vier. Du wählst aus den ersten vier Runen des FUTHARK diejenige, die der ersten Zahl entspricht. ALso im Beispiel „3“ ist das die Rune Thurisaz. Vorläufig! Das Ergebnis wird sich vermutlich noch verschieben.
Weiter zum zweiten Hölzchen. Hier hatten wir die Wahl aus noch insgesamt drei (das erste Hölzchen kommt zur Seite und kann nicht mehr aufgehoben werden), nämlich 1, 2, und 4. Das FUTHARK ist in drei Aetts aufgeteilt. Du wählst dasjenige Aett, welches der Position der Zahl in den übrigen Hölzchen entspricht. Im Beispiel ist es die 2, das ist die mittlere von den drei Zahlen, also ist es jetzt die dritte Rune des mittleren Aett, also nicht mehr Thurisaz, sondern Isa. Immer noch vorläufig, denn es gibt ja noch das dritte Hölzchen, das Du gezogen hast.
Beim dritten gezogenen Hölzchen hattest Du noch die Wahl aus insgesamt zwei, im Beispiel waren noch 1 und 4 übrig, und Du hast die 1 gezogen. Im ersten Schritt hast Du nur das halbe erste Aett auswählen können mit den vier Möglichkeiten – jetzt ist der Zeitpunkt, wo sich herausstellt, welche Hälfte des Aett gemeint ist. Von den beiden übrigen hast Du im Beispiel die kleinere gezogen, was „linke Hälfte“ bedeutet, das Ergebnis bleibt bei der dritten Rune des zweiten Aett, also Isa. Hättest Du hingegen. die 4 gezogen, dann wäre das Ergebnis auf die rechte Hälfte gewandert, und Dein Ergebnis wäre Algiz gewesen.
Tafeln und Tabellen
Wenn Du diese mentale Gymnastik nicht gleich machen willst, kannst Du natürlich auch eine hübhsce Tabelle verwenden. Ich finde, dass das Visualisieren der Runenreihe, und die „Bewegung“ des Ergebnisses auf der Visualisierung mit jedem zusätzlichen Hölzchen, eine prima Meditation ist, und dass es sehr schöne Magie der fast leeren Hand ist, auf einem Spaziergang mit Taschenmesser schnell vier Lose zu schneiden und den Rest im Kopf zu machen – aber es gibt möglicherweise keine absolute Wahrheit, daher hier eine praktische Übersicht:
1-2-3 ᚠ | 2-1-3 ᚢ | 3-1-2 ᚦ | 4-1-2 ᚨ ᚩ ᚬ ᚭ | 1-2-4 ᚱ | 2-1-4 ᚲ ᚴ | 3-1-4 ᚷ | 4-1-3 ᚹ |
1-3-2 ᚺ ᚻ ᚼ | 2-3-1 ᚾ | 3-2-1 ᛁ | 4-2-1 ᛃ ᛄ ᛅ | 1-3-4 ᛇ ᛨ ᛦ | 2-3-4 ᛈ | 3-2-4 ᛉ | 4-2-3 ᛊ ᛋ |
1-4-2 ᛏ ᛐ | 2-4-1 ᛒ | 3-4-1 ᛖ | 4-3-1 ᛗ ᛘ ᛙ | 1-4-3 ᛚ | 2-4-3 ᛜ | 3-4-2 ᛞ | 4-3-2 ᛟ |