Chaosmagie – ein Erklärungsversuch


von Frater Fuchs

Ich möchte diesen Blog nutzen, um mal meine persönliche Sichtweise auf das Thema Chaosmagie auszuformulieren und zu erklären. Ich will damit keinesfalls eine allgemein gültige Definition von Chaosmagie geben, sondern vielmehr ein individuelles Fenster anbieten, von dem aus man einen Blick auf diese Thematik werfen kann.

Chaosmagie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es keine einheitlichen Beschreibungen oder Erklärungen, keine festgelegten Regeln, keinen gemeinsamen Glauben, keine gemeinsamen Rituale oder Ähnliches gibt. Nichtmal eine einheitliche Erklärung für das Vorhandensein oder die Funktionsweise von Magie an sich existiert unter Chaosmagiern. Lediglich bestimmte Schlüsselbegriffe wie „Paradigmenwechsel“ oder plakative Sätze wie „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!“ scheinen sich oft zu wiederholen. Und damit unterscheidet sich Chaosmagie von allen anderen Glaubenssystemen, Weltbildern, von allen Religionen und auch von allen anderen magischen Schulen, die es auf der Welt gibt. Dieser Umstand ist es, der es so schwierig macht, etwas „allgemeines“ über Chaosmagie zu sagen, bei dem einem nicht sofort diverse Leute, die sich auch Chaosmagier nennen, entschieden widersprechen.

Ich habe deshalb beschlossen, von Anfang an auf den Versuch zu verzichten, einen möglichst allgemeinen Artikel zu schreiben, der einen „groben Überblick“ über das Thema Chaosmagie gibt und anstelle dessen meine ganz persönliche, individuelle Sicht auf die (Chaos-)Magie zu erklären.

Wenn ich mir irgendein Ritual anschaue, oder irgendeine religiöse Zeremonie, oder eine magische Operation, dann ist es für mich völlig unmöglich von außen zu sagen, was davon ein Chaosmagier durchgeführt hat und was nicht. Sei es eine katholische Messe, eine Voodoo-Zeremonie, eine schamanische Reise, eine hinduistische Puja, ein einfacher Kerzenzauber oder ein kompliziertes zeremonialmagisches Ritual… alles davon hätte ein Chaosmagier durchführen können. Oder keines davon. Es gibt keine „typisch chaosmagischen“ Rituale, Gottheiten oder Zeremonien, nichts, das von außen erkennen lassen könnte, dass es sich um Chaosmagie handelt. Ob die ausführende Person Chaosmagier/in ist kann ich erst dann sagen, wenn ich mit ihr gesprochen habe – über die Hintergründe dessen, was sie da getan hat. Ich würde Fragen stellen wie: Warum diese Farbe der Kerzen? Warum dieser Zauberspruch? Warum dieses Gebet, diese Geste, dieser Tanz? Warum diese und jene Regeln? Was bedeutet dieser Kelch, dieser Zauberstab, diese aufwändig gestaltete Robe? Wie genau funktioniert dieses Ritual Deiner Meinung nach? Etc.

Ein tiefgläubiger Christ antwortet mir wahrscheinlich, dass er seine Gebet spricht, wie sie in der Bibel stehen, wie es Gott will. Er sagt mir, dass alles, was in der Bibel steht, wahr ist und dass das Kruzifix ein heiliges Symbol für seinen Gott ist, der seinen Sohn in Menschengestalt auf die Erde geschickt hat. Alles, was er in seinen Ritualen tut funktioniert nur mit Gottes Hilfe, bzw. nach dessen Willen, und auch nur dann, wenn man es „richtig macht“, wenn man alles so befolgt, wie es sein soll, wie es vorgegeben ist, wie es immer schon gemacht wurde.

Ein Chaosmagier würde auf die obigen Fragen möglicherweise so etwas antworten wie: „Ich mache das, weil ich weiß, dass es so für mich funktioniert.“ Und es ist dabei ganz egal, ob es durch einen Gott oder jemand anderen vorgegeben wurde, oder ob er sich alles selbst ausgedacht hat. Es ist egal, ob es von außen betrachtet völlig unzusammenhängend, lächerlich und sinnlos wirkt. Es kommt nur darauf an, ob es zweckdienlich ist oder nicht. Und es ist auch ganz egal, ob es „wahr“ ist oder nicht. Wahrheit ist ohnehin etwas, das in der Chaosmagie als äußerst flexibel, individuell und relativ eingestuft wird.

Es gab mal eine ganze Zeit lang eine Facebook-Gruppe zum Thema Chaosmagie, die ich mir ab und zu angeschaut habe, als ich noch Facebook genutzt habe. Nicht selten kam es da vor, dass der eine oder andere eine Beschreibung von einer magischen Zeremonie dort veröffentlicht hatte und ganz aufgeregt und gespannt darauf wartete, dass jemand dazu seine Meinung schrieb. In vielen Fällen folgten aber keine Kommentare wie „schöner Text“ oder „toll gemacht“, sondern Fragen wie: „Und…? Hat es geklappt?“

Es geht nicht darum, wie andere meine Magie finden, ob ihnen die Wortwahl in den Zaubersprüchen und Anrufungstexten gefällt oder ob sie nachvollziehen können, warum ich die blauen und nicht grünen Kerzen gewählt habe. Es geht darum, ob die durchgeführte Operation für mich den gewünschten Effekt erzielt hat. Nur darauf kommt es am Ende an. Magie ist etwas, das ich nicht mache, um zu gefallen, nicht um Lob und Anerkennung für meine schönen Ritualkompositionen zu bekommen. Ich mache Magie, um bestimmte Effekte hervorzurufen, ganz egal was man nun vom „Design“ der eigentlichen magischen Operation halten möchte. Anders gesagt geht es nicht um die Performance, sondern um das Resultat, also darum, ob die Performance funktioniert.

Viele, die „Chaosmagie“ zum ersten Mal hören/lesen, denken an eine magische Methode, eine Technik oder eine sonstige Kategorisierung von Magie. Chaosmagie wird dann versucht zu vergleichen mit Kerzenmagie, schamanischer Magie, Zeremonialmagie, Runenmagie, etc. – Leider handelt es sich hier um ein großes Missverständnis. Bei Chaosmagie handelt es sich nicht um eine Technik, nicht um eine bestimmte magische Methode. Chaosmagie ist eine Philosophie, ein Blickwinkel, aus dem heraus Magie betrachtet wird.

In meinen Augen sind alle magischen Techniken „nur“ Spielzeug, das uns weismacht, es sei Magie passiert, damit wir daran glauben, sie sei passiert. Und dieser Glaube, diese Erwartung ist es anscheinend, die den Effekt verursacht, nicht das Spielzeug, nicht der Weg zum Ziel.

Viele Chaosmagier, mit denen ich mich über diese Thematik unterhalten habe, haben mich sehr erstaunt, weil sie mir gesagt haben, dass sie gar nicht so sehr daran interessiert sind, warum Magie funktioniert. Ich bin mit einem grundsätzlich alles hinterfragenden Geist auf die Welt gekommen und es ist mir bei weitem nicht genug zu wissen, dass Magie existiert und dass sie funktioniert und zu Resultaten führt. Ich will wissen warum.

Ab dieser Stelle spätestens wird dieser Artikel wirklich sehr individuell und zu einer persönlichen Sicht auf das ganze Thema, weil das was ich ab hier schreibe stark eingefärbt von meinen persönlichen Erlebnissen und Prägungen und Überzeugungen ist. Ich muss darüber schreiben, über diese persönlichen Erfahrungen und Glaubensvorstellungen, weil Chaosmagie genau an der Stelle eine Lücke offen lässt. Ich will das kurz erklären.

Paradigmen sind in den Augen der Chaosmagier austauschbar, je nach persönlicher Vorliebe der jeweiligen Magier, was ihnen halt am besten liegt/was für sie am besten funktioniert. Wenn über den berühmten Paradigmenwechsel gesprochen oder geschrieben wird, dann wird aber meist auf ein kleines aber feines Detail nicht weiter eingegangen, nämlich dass wir IMMER an etwas glauben. Selbst dann, wenn wir verstanden haben, dass Glaube, dass Weltbilder austauschbar sind wie Glühbirnen, selbst dann glauben wir immer noch etwas. Es ist völlig unmöglich, „nichts zu glauben“, wie es Atheisten oft von sich behaupten. Denn selbst die Überzeugung, dass es keinen Gott gibt, ist ein Glaube. Selbst wenn uns klar ist, dass jede Idee, jedes Weltbild, selbst jede Wahrnehmung völlig relativ ist, selbst dann haben wir einen Glauben, und sei es nur der, dass all das eine Fantasie ist, ein Schauspiel, dass es nicht echt ist, und dass das echte Leben irgendwo hinter einem Vorhang geschieht, hinter den wir nicht schauen können.

Ich hatte vor 13 Jahren einen sehr schweren Autounfall, nach dem ich zuerst mehrere Stunden gemessen hirntot war und dann mehrere Wochen im Koma lag. Und als ich aus dem Koma aufgewacht war, brachte mir einer meiner Ordensbrüder einen Zettel ins Krankenhaus, über den ich sehr lachen musste. Darauf stand:

„Während Du das hier liest, bist Du seit etwa 20 Jahren im Koma. Wir versuchen eine neue Methode. Wir wissen nicht, wie und wann Dich diese Nachricht in Deinen Träumen erreicht, aber wir hoffen, dass wir irgendwie durchkommen. Bitte: Wach auf!“

Woher ich weiß, dass das nicht stimmt? Woher ich weiß, dass ich nicht seit Jahren im Koma liege und träume? Das weiß ich nicht. Es könnte durchaus sein, dass all das, inklusive dieses Blog-Artikels, bloß meine Einbildung ist, die sich nirgendwo anders abspielt als in meinem Kopf, der auf einem weichen Kissen in einem Krankenhaus-Zimmer liegt. Aber ich glaube das nicht.

Ich glaube, dass ich nicht im Koma liege und träume, sondern dass das hier, dieser Moment, dieses Leben hier wirklich ist. Aber das ist möglicherweise nur meine Wahrheit und meine Wirklichkeit. Und so ist es mit allen anderen Dingen, die wir wahrnehmen und erleben auch: Sie sind keine in Stein gemeißelten Wahrheiten, die für alle gelten, sondern höchst individuell wahrgenommene Ereignisse und Interpretationen aus unseren Wahrnehmungen. Das selbe Ereignis, von zwei Menschen zeitgleich beobachtet, kann für beide völlig unterschiedlich aussehen und interpretiert werden. Weil nicht nur Paradigmen individuell verschieden sind, sondern auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit selbst. Und beides wirkt sich jeweils auf das andere aus, sowohl das Paradigma auf die Wahrnehmung als auch die Wahrnehmung auf das Paradigma.

Aber würden wir uns das 24 Stunden am Tag vor Augen führen, wären wir uns also die ganze Zeit im vollem Ausmaß darüber bewusst, dass nichts von dem was wir glauben, nichts von dem was wir wahrnehmen zwingend für alle und für immer wahr ist, sondern vielleicht nur für uns selbst und nur in diesem Moment, dann wäre das nur schwer zu ertragen. Es wäre quasi unmöglich, sich an etwas festzuhalten, weil alles in einem Strudel der Relativität verschwinden würde. Wenn wir nur möglicherweise nicht fliegen können, weil es nur möglicherweise die Schwerkraft gibt, wenn wir nur möglicherweise unter Wasser nicht atmen können, weil wir nur möglicherweise Kiemen dazu bräuchten, dann wird es wirklich schwer, noch am Leben der restlichen Menschen teilzuhaben, die sich auf Paradigmen wie Gravitation und Lungenatmung einigen. Je relativer die Alltagswirklichkeit für uns ist, desto transzendenter werden wir, desto weniger verstehen wir den Alltag von Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen. Und desto wahrscheinlicher wird es, dass wir den Verstand verlieren, anstatt Erleuchtung zu finden.

Jeder Mensch glaubt also. Auch wenn er glaubt, nicht zu glauben. Jedes wahrnehmende Wesen interpretiert seine Wahrnehmungen und kommt zu bestimmten Schlüssen. Jeder dieser Schlüsse könnte nicht nur falsch sein, sondern ist es höchstwahrscheinlich auch, zumindest falsch im Sinne von unvollkommen, weil unsere individuelle Wahrnehmung und die Schlüsse, die wir daraus ziehen, niemals das gesamte Bild zeigen werden, niemals alle Zusammenhänge erkennen können.

Also: Auch wenn mir klar ist, dass Weltbilder, dass Paradigmen nur Fenster sind, aus denen ich auf die Welt schaue, auch wenn mir klar ist, dass es möglicherweise keine absoluten Wahrheiten gibt, auch dann noch glaube ich an etwas, und das will ich versuchen hier zu beschreiben.

Was, wenn all das, woran wir fest genug glauben, Wirklichkeit wird? Was, wenn der einzige Grund dafür, dass wir nicht fliegen können nicht die Existenz von Gravitation ist, sondern die Tatsache, dass wir nicht daran glauben, dass wir uns über Gravitation hinweg setzen können?

Ich glaube, dass alle Zaubersprüche, alle magischen Dolche, Zauberstäbe, Kelche, Roben und Kerzen, alle Zeremonien und Rituale und magischen Operationen, dass all das eine notwendige Ablenkung ist. Es ist Spielzeug, das wir benutzen und von dem wir uns einreden, dass wir es brauchen, weil wir nicht daran glauben können, dass all das nicht notwendig ist, um Magie zu wirken. Ich glaube daran, dass die Götter, deren Namen wir in den Himmel rufen nur Masken sind, nur Ideen, die wir brauchen, bis wir uns trauen daran zu glauben, dass wir die Götter sind, und dass tatsächlich wir all diese Macht haben.

Es gibt ein ouranobarbarisches Wort, es heißt „IJACEEBO“ (mehr Info über die ouranobarbarische Sprache findest Du hier). Übersetzt heißt IJACEEBO: „Alle Götter und Dämonen sind wir!“ Wenn ich lange über diesen Satz nachdenke, wird mir irgendwann klar, warum ich mich so sehr davor fürchte, Gott zu sein. Es ist deshalb so unheimlich, weil ich mich dem nicht gewachsen fühle. Weil Allmacht auch Allverantwortung bedeutet. Ich bin ein Gott, der sich in dem Traum ausruht, „nur“ ein Magier zu sein. Aber… möglicherweise gibt es keine absoluten Wahrheiten…