Atavistische Nostalgie


von Frater Pandagaz 247

Dieses Ritual beruht auf dem von Austin Osman Spare entwickelten Modell des Unbewußten. Grundsätzlich ist Spares magische Philosophie eine Philosophie des Begehrens, das für ihn als grundlegende Kraft aller Lebewesen sowohl in der Entstehung des Universums, der Evolution des Lebens wie auch in jedem Lebewesen als Ausdruck eines individuellen körperlichen Daseins präsent ist. Entscheidend für dieses Ritual ist, dass bei Spare das Unterbewußtsein die Charakteristik eines über die individuelle Existenz hinausreichenden Gedächtnisses besitzt, in dem Erinnerungen an vorzeitliche Stadien der Existenz gespeichert sind, wobei Spare davon ausgeht, dass wir vor der menschlichen Inkarnation solche als Tiere und Pflanzen durchlaufen haben. In seinem Buch der Freude („Book of Pleasure“) beschreibt Spare den Aufbau des Unterbewussten so, dass es aus verschiedenen Schichten, sogenannten Strata, besteht. Diese Strata sind Sedimentierungen von Erfahrungen, die aufeinander liegen, so dass die jüngsten Erfahrungen den obersten Strata entsprechend, während weiter zurückliegende Erfahrungen in den tieferen Schichten zu finden sind. Spare selbst schreibt: „Je tiefer wir in diese Strata eindringen, desto ursprünglicher werden die Lebensformen, auf die wir stoßen. Die letzte ist die allmächtige Einfachheit. Wenn wir diese erfolgreich erwecken können, dann erlangen wir ihre Fähigkeiten und ihre Eigenschaften werden die unseren sein. Da die Erfahrungen lange zurückliegen, können sie nur durch äußerst subtile Suggestionen ins Gedächtnis zurückgerufen werden, die nur dann wirken, wenn die Geistestätigkeit ausgesprochen ruhig und einfach ist. Ihre Weisheit zu erlangen bedeutet allerdings nicht, auch ihren Körper besitzen zu müssen“[1]. Schließlich war Spare davon überzeugt, dass wir von einer beständigen Sehnsucht erfüllt sind, zu früheren Stadien unserer Entwicklung zurückzukehren [2]. Diese sogenannte „atavistische Nostalgie“ zu erfüllen, ist Sinn und Zweck dieses Rituals. Legt man nun die Sichtweise Spares zugrunde, läßt sich die Entwicklung des Individuums aus seiner Sicht als lineare Linie darstellen, aus Sicht der Ewigkeit jedoch als eine Art Baum mit zahlreichen Wegpunkten an den verschiedensten Stellen der Evolution. Jedes Individuum hat, von einem gemeinsamen Beginn her kommend, unterschiedliche Abzweigungen in der Entwicklung des Lebens insgesamt, aber auch in der Entwicklung seines individuellen Lebens genommen. Wäre es auf einer früheren Ebene einmal anders abgebogen, wäre es jetzt ein anderes Lebewesen, wäre es vor kurzem durch das Treffen einer anderen Entscheidung anders abgebogen, würde s jetzt u.U. ein völlig anderes Leben mit einem anderen Beruf, einer anderen Partnerin oder in einem anderen Land führen. Ich habe versucht, dieses Schema auf der folgenden Abbildung darzustellen:

Die Bäumchen stellen die verschiedenen Linien der Evolution, sowie die Entwicklung des Individuums dar. Basierend auf dem philosophischen Modell, dass die Identität des Menschen auf einer Folge sich überschneidender Erinnerungen [3] beruht (der vierzigjährige Pandagaz hat vielleicht keine Erinnerungen mehr an das Leben als zweijähriger Pandagaz, aber er weiß noch, was er als zwanzigjähriger Pandagaz erlebt hat und der wiederum konnte sich noch an die Erlebnisse als Zehnjähriger erinnern, der wiederum an die Erlebnisse als Fünfjähriger und der dann an die Erlebnisse als Zweijähriger. Wir haben es aber durchgehend mit einem Individuum Pandagaz zu tun, auch, wenn sich Körperzellen mittlerweile viele Male regeneriert und komplett ausgetauscht haben), wollen wir unseren Weg zurück an den Beginn antreten. Der Ablauf des Rituals ist relativ simpel. Im Altarraum können zur Unterstützung der Erinnerungen Felle, Federn, Steine, Pflanzenteile, Bilder von Tieren etc. als Spiegel vorheriger Invokationen ausgelegt werden. Noch einfacher ist es, das Ritual im Freien durchzuführen. Jedenfalls stehen alle Teilnehmer in einem möglichst großen Kreis.

  • IAO
  • „Es ist mein Wille zurückzukehren“.
  • Kurze Meditation über die Frage „Wo komme ich her?“. Hierzu einfach in die Frage hineingehen und die eigenen Assoziationen, die das Gehirn hochkommen läßt, beobachten ohne sie zu bewerten oder näher über sie nachzudenken.
  • Auf ein Signal des Ritualleiters geht man nun in sich und erinnert sich an ein Ereignis, das möglichst lange zurückliegt und an dem man selbst beteiligt gewesen ist. Nun macht man einen Schritt voraus (geht also im Baum nach innen) und invoziert sich selbst zu diesem Zeitpunkt (z.B. also den zehnjährigen Pandagaz, der gerade ein Fahrrad geschenkt bekommen hat und sich ein Loch in den Bauch freut – dies geht i.d.R. besonders gut mit Ereignissen mit emotionaler Komponente). In diesem invozierten Zustand nun erinnert man sich an ein noch weiter zurückliegendes Ereignis, macht einen weiteren Schritt nach vorn und invoziert nun sich selbst zu diesem weiter zurückliegenden Zeitpunkt und so weiter. Hierbei überwindet man auch die Grenzen zu vorherigen Inkarnationen bzw. Entwicklungsstufen, da spätestens im Zeitpunkt der Geburt schon eine Erinnerung an das bestanden hat, was davor war.

Ab hier gibt es verschiedene Möglichkeiten, das Ritual individuell zu gestalten:

a) Man kann zunächst soweit wie möglich nach innen gehen und sehen, woran man sich erinnert, und, ob es z.B. Überschneidungen mit den Linien anderer Teilnehmer gibt.

b) Man kann den Weg auch von innen nach außen gehen und sich dann an den Weggabelungen anders entscheiden und sehen, wohin der neue Weg führt und welche Optionen er bietet. Es ist zwar richtig, dass man dann nicht in den „eigenen“ Strata/Erinnerungen voranschreitet, aber da die Strata sowohl in uns selbst als Erinnerungen vorhanden sind, als auch zugleich die Entwicklung der Spezies abbilden, sind in den ihnen alle Optionen vorhanden, auch, wenn wir persönlich keine Erinnerung daran haben, weil wir uns an einem Wegpunkt anders entschieden haben oder die Spezies anders „abgebogen“ ist.

c) Alternativ kann man auch zu eigenen Entscheidungen zurückgehen, den anderen Weg als den in der Vergangenheit gewählten aussuchen und sehen, was passiert wäre, wenn …

  • Jedenfalls kann jeder Teilnehmer jederzeit in die Gegenwart zurückkehren, indem er sagt „Es ist mein Wille zurückzukehren“ und dabei mit den Fingern schnippt.
  • Soweit erforderlich, kann sich eine Bannung anschließen.

FUßNOTEN

1Spare. a.a.O., S. 221 f..

2 DeWitt, a.a.O., S. 65. S. etwa George H. Mead und das Modell der „Schnur der Identität“ in Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, 17. Aufl. 2008, Suhrkamp-Verlag, S. 177, 218.

3 Eine hervorragende Einführung in die Grundlagen der Lehren Austin Osman Spares gibt Michael Zoe DeWitt in seiner Einleitung zu Austin Osman Spare, Gesammelte Werke, Edition Ananael, 2. Auflage 2013, S. 9ff.. Die Erläuterungen zum hier behandelten Thema finden sich auf S. 63 ff..

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